Mich beschäftigt in diesen Tagen eine Diskussion in einer Chatgruppe mit alleingeborenen Mehrlingen – wenn man so will, eine Gruppe also, die per definitionem mit Ungleichgewicht zu tun hat. Wie so oft in solchen Gruppen von Yoga bis Schamanismus ist die große Mehrheit des zwei Dutzend Köpfe umfassenden Publikums weiblich.
Dann kommentiert ein Mann, es würde „Blümchenenergie“ vorherrschen „und seltener ein pragmatischer Erfahrungsaustausch“. Wer mich kennt, weiß, dass ich absolut keine Vertreterin von Blümchen- und Wellness-Schamanismus oder -Leben bin und generell eigentlich sehr pragmatisch. Aber natürlich besteht diese Gruppe nicht nur aus mir.
Nun ist klar, dass Männer und Frauen oft sehr unterschiedliche Wahrnehmungen und Kommunikationsstile haben. Unvergessen sind mir bis heute zwei Medizinwanderungen bei psychedelischen Retreats, bei denen wir die Aufgabe hatten, jenseits der Schwelle als das jeweils andere Geschlecht zu gehen. Erst da habe ich verstanden, wie fundamental unterschiedlich die Wahrnehmungen sind. Unvergessen ebenso eine Szene bei einem anderen Retreat, als ein Trupp Männer am Tisch unmittelbar vor einer Zeremonienacht – in der es also ganz wesentlich darum gehen sollte, mit sich selbst und dem eigenen Inneren in Verbindung zu gehen – anfing, über Börsenkurse, Finanzprodukte oder Ähnliches zu reden. Und ebenso ist klar, dass die Welt durchaus beide Sichtweisen braucht, Yin und Yang.
Dieser Mann in der Chatgruppe hat dann das Bild einer Schaukel verwendet, mit ihm alleine auf der einen Seite und den ganzen Frauen auf der anderen Seite. Ich habe, auch in meiner Eigenschaft als Co-Admina dieser Chatgruppe, versucht herauszufinden, wo genau er das Problem sieht, versucht, das Ganze aus seiner Perspektive, von seiner Seite der Schaukel zu sehen. Bei manchen Aussagen konnte und kann ich auch aus vollstem Herzen zustimmen, etwa der, dass es not-wendig ist, ins Fühlen zu kommen. Aber irgendwie ist dieser Perspektivenwechsel nicht gelungen – „wenig bewegte sich auf meine Seite“, schrieb er.
In diesem Text hier geht es mir aber gar nicht so sehr um den Inhalt, sondern um das, was sich für mich daraus ergeben hat. Erst einmal führte das Ganze zu einer neuen Erkenntnis im Zusammenhang mit meiner eigenen Zwillingsgeschichte: ich hatte das Gefühl, ich habe alles mir Mögliche versucht, um die Verbindung zu meinem Gegenüber aufrechtzuerhalten, und bin am Ende damit gescheitert – in der Chatgruppe ebenso wie damals mit dem Zwilling.
Es setzte sich aber noch fort, weil mir, wenn auch verspätet, grundsätzliche Aspekte auffielen. Natürlich ist meine Sichtweise hier sehr subjektiv und hat vielleicht gar nicht so viel mit dem zu tun, was er eigentlich meinte. Jedenfalls schrieb er weiter, die Lösung sei, „das Meistgewohnte um 180 Grad [zu] drehen“ (Orthographie des Zitats angepasst), der anderen Seite der Schaukel mehr Gewicht zu geben, das Anderssein anzunehmen und die Gleichmacherei zu lassen. Und dieses Angebot einer neuen Perspektive geschehe – das ist jetzt meine Formulierung – aus seiner besten Absicht für uns andere.
Irgendwie bin ich da gestolpert, aber es hat eine Weile gedauert, bis ich wenigstens ansatzweise zu fassen bekam, was mich da stolpern ließ und dann eben zu grundsätzlichen Fragen führte.
Wir haben also ein Ungleichgewicht auf der Schaukel. Die Seiten der Schaukel sind von jeweils einem Aspekt einer Dualität besetzt. Die Minderheitsseite sagt: kommt zu mir herüber, werdet wie ich. Klingt erstmal logisch, immerhin kann die Schaukel dann wieder schaukeln (jedenfalls dann, wenn das Ganze sich dann einigermaßen gleich verteilt), und Schaukeln macht Spaß, ist lebendig, dynamisch. Aber was heißt das, wenn ich die Seiten wechsele? Ich gebe das auf, was ich bin, um so zu werden, wie jemand anders ist. Kann ich also wirklich von einem Aspekt der Dualität in den anderen wechseln?
Minderheiten sind auch so eine Sache, oder der Ausgleich von Ungerechtigkeiten. Seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten wird gestritten, wie Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden können. Brauchen die Minderheit oder der bisher benachteiligte Anteil einen besonderen Schutz, etwa im Sinne einer Quotenregelung (mindestens x Personen auf einer Seite der Schaukel …)? Oder bringt das wieder eine andere Art von Ungerechtigkeit mit sich? Oder muss die Minderheit sich integrieren und anpassen, damit sie dann keine Minderheit mehr ist? Oder sagen wir einfach, es sind ja alle Freiheiten da, das mit der Ungerechtigkeit wird sich schon irgendwann ausmitteln?
Seitenwechsel: ich gebe das auf, was ich bin, um so zu werden, wie jemand anders ist. Oder eigentlich, genauer: wie jemand anders mich haben will, und zwar aus der allerbesten Absicht für mich. Das impliziert, dass der andere weiß, was gut für mich ist, ich hingegen in meinen Annahmen darüber, was gut für mich ist, einem Irrtum unterliege. Andernfalls würde ich ja nicht auf der falschen Seite der Schaukel sitzen. Und wenn ich es nicht schaffe, auf die richtige Seite zu wechseln, dann kommt der Klassiker: das Gefühl, versagt zu haben, nicht gut genug zu sein (da jedenfalls bin ich dann gelandet).
Die Minderheitsseite sagt: komm zu mir herüber. Was ist, wenn das nicht passiert? Die Minderheit sitzt immer noch alleine auf ihrer Seite der Schaukel und fühlt sich nicht gesehen, womöglich gar verlassen oder zurückgewiesen, weil die andere Seite der Einladung nicht gefolgt ist, die ja aus der Perspektive der Minderheitsseite großzügig, offen, gutherzig gemeint war. Fühlt sich irgendwie auch nicht gut an.
Wenn ich mir das genau überlege (und tatsächlich musste ich diesen Text bis hierhin schreiben, um darauf zu kommen …), dann geht es unterschwellig um Mangel. Darum, dass wir gehalten sind, uns irgendwo anders hinzubewegen, weil dort etwas fehlt, wir also dort etwas vervollständigen sollen; oder, weil uns selbst etwas fehlt und wir dort an diesem anderen Platz vollständiger sind als hier.
Aber vielleicht ist gerade das die falsche Perspektive? Wenn jede Seite tatsächlich in ihrer Fülle ist – hier bin ich, in all meiner Kraft, Präsenz, Liebe, in all meinen weiblichen wie männlichen Anteilen -, dann mag es schon sein, dass in diesem Moment vielleicht gerade kein Schaukeln möglich ist, weil hier mehr sitzen als dort. Es mag aber in einem anderen Moment genau umgekehrt sein, und dort sitzen mehr als hier. Und es mag Momente geben, in denen wir wirklich schaukeln, in schwebender Dynamik ein Gleichgewicht finden.
Das wiederum erinnert mich an die Meditation zum Energiekörper anfangs jeder Zeremonie: eine Achse zwischen Himmel und Erde, Geist und Materie; eine Achse zwischen links und rechts, weiblich und männlich, Intuition und Ratio; eine Achse zwischen vorne und hinten, Vergangenheit und Zukunft. Auf jeder dieser Achsen tarieren wir in jedem einzelnen Moment ein Gleichgewicht aus, das nicht statisch ist, sondern dynamisch, angepasst an die jeweilige Situation. Und damit hat dann jeder Zustand auch seine Berechtigung.
In diesem Sinne: lasst uns unsere Blümchenenergie feiern! Ein andermal kümmern wir uns dann auch gerne um die Börsenkurse.
(Sommer 2025)