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Beten, ich? So komplett atheistisch, wie ich aufgewachsen bin? Die ich Kirchen immer nur als Historikerin, der schönen Gebäude wegen und ansonsten mit dem Blick des Ethnologen besucht habe, um die "merkwürdigen Gebräuche der Einheimischen" zu studieren?

Ja, doch.

Was gibt es für ein genialeres Gebet als das Vaterunser? "Dein Wille geschehe." Nicht meiner. Ich gebe mich hin. Ich gebe alles, was ich zu geben habe - mich selbst. Ich gebe es hin, ohne zu wissen, was kommt, auch, ohne etwas zu erwarten.

Das unterscheidet ein Gebet von einer Bitte. Ich bitte um etwas, um ein Auto ("Oh, Lord, won't you buy me a Mercedes Benz ..."), um Gesundheit, um Frieden. Ich möchte etwas bekommen. Natürlich kann ich auch für andere oder für die Gemeinschaft bitten - die christliche Tradition hat mit der Fürbitte sogar einen eigenen Begriff dafür. Doch im Kern geht es um mich. Ich möchte etwas.

Im Gebet dagegen spielt das, was ich als Person, als Mensch möchte, keine Rolle, bin ich selbst völlig unwichtig. "Dein Wille geschehe".

Natürlich habe ich einen Willen und auch die Freiheit, jeden beliebigen Weg zu beschreiten, und egal, welchen Weg ich wähle, ich bin immer noch in Gottes Hand. "Ich vertraue, dass ich nicht tiefer fallen kann als in Gottes Hände." Diesen Satz musste ich vor einigen Jahren vor meinen Geistern "unterschreiben". Und es fiel mir schwer, sehr schwer. Kann ich wirklich vertrauen? Kann ich auch dann vertrauen, wenn mir gerade sämtlicher Boden unter den Füßen weggezogen wird?

Es ist ziemlich unmöglich, den schamanischen Weg zu beschreiten, ohne dabei gnadenlos mit sich selber konfrontiert zu werden, mit den eigenen Schatten und unaufgeräumten Ecken, und zwar immer und immer wieder, wie bei einer Zwiebel, die Stück für Stück aufgeblättert wird, um ihr Innerstes freizulegen. Diesen Sommer gab es einen Punkt, da hatte ich dieses ewige Achterbahnfahren satt, hatte keine Kraft mehr dafür. Ich war müde, wollte nicht mehr, sehnte mich nach Frieden. Mich selber zu lieben, könne den Schmerz heilen, sagten meine Geister. Doch auch dafür hatte ich keine Kraft mehr. "Dein Wille geschehe", habe ich gebetet, denn ich selbst hatte keinen mehr.


Und wieder einmal lag in diesem kompletten Aufgeben, in dem Mich-hin-geben die Lösung. Dieses Mal nicht sofort (auch das ist schon vorgekommen, wie wenn ein Schalter umgelegt wurde), aber nicht lange danach, zwei Wochen, vielleicht drei. Ein Stichwort kam aus einer Reise, die jemand für mich unternahm, ein weiteres in einem Traum. Noch ein Traum, in dem vielleicht letzte Hindernisse beseitigt wurden. Schließlich ein Abend beim Welle-Tanzen, plötzlich trägt es mich komplett von der Tanzfläche weg, vor mir ein Wald, ein Tor. Mir wird klar, dass es um eine Entscheidung geht, um den Platz, der der meinige ist. "Dann geh!", heißt es von den Geistern - Erlaubnis wie Aufforderung, der solcherart getroffenen Entscheidung, dem Statement tatsächlich zu folgen.

Egal, ob für uns oder für andere: schamanisches Arbeiten braucht nicht nur Hingabe, schamanisches Arbeiten ist Hingabe, ist Demut, ist ein Gebet.

© Sabine Schleichert, Herbst 2015