Zaunreiterin |
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Ich
hatte einen Bruder
Ich hatte einen Bruder. Was für ein merkwürdiger Satz! Ich hatte keinen Bruder. Ich war ein Einzelkind. Fünfzig Jahre lang. Dann aber kamen, durch die dünner gewordenen Schleier hindurch, Wahrnehmungen, Eindrücke, Fragmente. Ich, in tiefster Verzweiflung: "Wie konntest du mich verlassen??!" Ein Ozean an Einsamkeit. Völlige, absolute, unstillbare Einsamkeit. Ein Schmerz, der alles zerreißt, so vollkommen unerträglich, dass ich jedes Mal entweder mit Klauen und Zähnen und bis auf den letzten Zentimeter gegen ihn angekämpft habe - oder vor ihm geflohen bin, buchstäblich bis ins Jenseits. Schmerz an der Grenze zum Wahnsinn. Ich ließ meine Wahrnehmungen überprüfen, und sie wurden bestätigt. Inzwischen besteht kaum noch ein Zweifel für mich. Ich hatte einen Zwilling, einen Zwillingsbruder, der wohl um den dritten oder vierten Schwangerschaftsmonat herum gestorben ist. Dass so etwas überhaupt möglich ist, davon hatte ich überhaupt erst ungefähr ein Jahr zuvor gehört - und, um ehrlich zu sein, ich hielt es für reichlich abwegig. Mir erschien das wie eine ausgedachte Erklärung für was auch immer ... "oh mein Gott, mir tut der linke kleine Zeh weh, ich hatte sicherlich einen verlorenen Zwilling ...". Eine sehr tiefe Traumatisierung würde er in mir sehen, sagte mir jemand. Wer, ich? Traumatisiert? Nein. Ich doch nicht. Andere haben viel Schlimmeres erlebt. Wie könnte ich das sagen, meinte er, wenn ich noch gar nicht wüsste, was ich erlebt habe? Nun ja ... neugierig wie ich bin, stieg ich in die Literatur ein, stieß auf Peter Levine (Sprache ohne Worte) - und fand das, was da stand, erschreckend. Erschreckend zutreffend. Und tatsächlich kam ich auf die Dauer nicht an der Tatsache vorbei, dass da ein immenser Schmerz war (und ist) und ich um ziemlich jeden Preis vermied, damit in Berührung zu kommen. Lange aber blieb weiter unklar, woher dieser Schmerz kam. Völlig überwältigend war er, aber es gab keine Bilder, keine wirklich brauchbaren Informationen dazu. Dann kamen die oben beschriebenen Wahrnehmungsfetzen, und ich ging wieder auf die Suche nach Literatur. Dass Barbara Schlochow nebenbei die Schwester einer früheren schamanischen Lehrerin von mir ist, war weniger relevant als das, was sie geschrieben hat (Gesucht: Mein verlorener Zwilling; ich beziehe mich auf die erweiterte Neuauflage von 2017). In einem Nebensatz wurden dort Kontraktionen in der Zwerchfellgegend erwähnt. Genau solche Kontraktionen waren (und sind) mein ständiger Begleiter seit einer Serie von Ereignissen vor etwa vier Jahren, die ich im Nachhinein als Reaktivierung des ursprünglichen Traumas betrachte. Und so fielen dann plötzlich ganz viele Puzzlestücke an ihren Platz. Tatsächlich hat sogar meine Berufswahl hat auf diese Weise eine tiefere Erklärung gefunden. Für die gibt es natürlich auch nachvollziehbare äußere Gründe, aber der Zusammenhang ist trotzdem frappierend. Ich arbeite seit fünfundzwanzig Jahren freiberuflich als Berufsgenealogin. Was tut ein Genealoge? Er sucht Menschen: Vorfahren, Nachkommen, Erben, leibliche Eltern, Verwandte. Nicht immer, aber meistens sind die Gesuchten schon tot. ... Ich habe die ganze Zeit meinen verlorenen Zwilling gesucht ... In den vergangenen Monaten habe ich versucht, den Zwilling zu verabschieden - was nicht wirklich funktioniert hat. Ich habe versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen - was bisher auch nur eingeschränkt funktioniert. Er hat einen Namen (den definitiv weder ich noch meine Eltern ausgesucht hätten, der aber bei genauerem Hinsehen sogar fast Sinn ergibt) und eine Kerze auf meinem Altar. Ich habe gefragt, warum er da war und gegangen ist. Die Antwort war, dass es darum ging, mir Liebe und Schmerz zu zeigen. Und das, ja, wahrhaftig, das ist genau das, was gerade passiert. Ich habe in den vergangenen Monaten mehrfach noch einmal erlebt, durchlebt, erfahren, wie es für mich war, damals, als das passiert ist. Aus dem Verlassensein in den Schmerz, von dort in die Betäubung - und dann in den Tod. Aus der Einsamkeit in die abgrundtiefe Verzweiflung und schließlich bis auf Millimeter vor dem eigenen tatsächlichen Tod. Ich habe damals, noch im Bauch, im Wortsinn versucht, mir das Leben herauszureißen, es herauszukratzen, um ihm zu folgen. Was, offensichtlich, nicht funktioniert hat, denn sonst wäre ich nicht hier. Nebenbei habe ich dann noch begriffen, dass es da ein großes Problem mit Vertrauen gibt. Offenbar habe ich diese Welt nie wirklich als sicher betrachtet. Natürlich vertraue ich, das schon, und auch das schamanische Arbeiten hat über die Jahre dafür gesorgt, dass ich mich der Führung durch die geistigen Welten an-vertrauen kann. Doch immer wieder kommt es zu Situationen, in denen dieses Vertrauen in die Welt von einem Moment auf den anderen fundamental erschüttert wird. Untendrunter ist also ein Kern von Nicht-Vertrauen, basierend auf dem Gefühl, verraten worden zu sein. Ich bin noch nicht sicher, wo das herkommt: vom Verlust des Zwillings? Oder ist es eher ein Gefühl, die Welt hätte mich verraten, nachdem sie mir nicht einmal zugestanden hat, mich selbst umzubringen und dem Zwilling zu folgen? In der Verzweiflung habe ich damals beschlossen, von nun an alleine zurechtzukommen, unter allen Umständen und um jeden Preis alleine stark zu sein. Dieses Streben zieht sich in der Tat durch mein ganzes Leben, durchaus zum Leidwesen mancher meiner Mitmenschen. Doch jetzt erst, endlich, verstehe ich, warum das so ist. Im Moment ist der Schmerz immer noch wie ein Tunnel, an dessen Ende das Licht noch nicht einmal zu sehen ist. Ein Mandala, das ich vor einigen Monaten nach einer Sitzung Holotropes Atmen gemalt habe, ist komplett schwarz. In der Runde habe ich dann noch gesagt, ich hätte beim Malen überlegt, wenigstens pro forma ein Licht in das Bild einzubauen - aber das war nicht möglich, da war keines. Schon klar: Der Weg hinaus ist der Weg hindurch. Das gilt für den Schmerz ebenso wie für die Sachen mit dem fehlenden Vertrauen und mit der Notwendigkeit, alleine stark zu sein. Beides scheint nur auf einem Weg auflösbar zu sein: wenn ich einerseits mir dieser Verzweiflung, der Einsamkeit, des Nichts vollkommen bewusst bin und es bedingungslos akzeptiere; und andererseits eben aus diesem Nichts heraus eine bewusste Entscheidung treffe. Für Vertrauen. Dafür, die Dinge nicht immer alleine zu machen. Für das Leben. Und ... so schwierig der Weg ist: ich bin unendlich dankbar für das, was ich in den vergangenen Monaten lernen und erfahren durfte. Ich bin meinem Zwilling dankbar für das, was er für mich getan hat. Ich bin, auch wenn das paradox klingt, meinem ehemaligen schamanischen Lehrer zutiefst dankbar für die krassen - um nicht zu sagen grenzwertigen - Erfahrungen, durch die ich in dem Kreis dort gegangen bin, denn ohne sie wäre mir die Sache mit dem Zwilling nicht zugänglich geworden. Ich bin dem Leben, ich bin mir selbst dankbar dafür, dass es mir möglich ist, diesen Weg zu gehen. |
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©
Sabine Schleichert, Herbst 2018 |