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Die Entscheidung zu vertrauen

Selbstverständlich vertraue ich. Ich vertraue darauf, dass die S-Bahn fährt und die Läden zu den Geschäftszeiten offen haben. Ich vertraue darauf, im Fall von Schwierigkeiten jedweder Art irgendeine gangbare Lösung zu finden. Ich vertraue meinem Mann. Ich vertraue meinen Geistern, dass sie mich führen und leiten. Ich gehöre definitiv nicht zu den Leuten, die jederzeit vom Eintreten der größtmöglichen Katastrophe ausgehen.

Alles wunderbar.

Dann kamen zwei Menschen und sagten, sie würden tief verwurzeltes Misstrauen und Angst in mir sehen. Monatelang habe ich das abgestritten, und ich war tatsächlich fest davon überzeugt, dass die beiden Unrecht hatten. Nein, natürlich vertraue ich, und vor allem vertraue ich Euch! Ich kann mir keinen sichereren Rahmen vorstellen als den, den Ihr bietet. Ich sehe dieses Misstrauen und die Angst nicht, von der Ihr sprecht.

So langsam kamen schließlich doch die Fragen durch. Warum konnte ich mich meinen Eltern nie wirklich an-vertrauen?
Warum meint meine Nachbarin, Kontrolle sei für mich so wichtig? Warum konnte ich mich in den Zeremonien mit meinem früheren schamanischen Lehrer nie vollständig fallen lassen? Das ist in diesem Fall wirklich wörtlich zu verstehen, denn ich bin als Klientin in all den vielen Amanita-Zeremonien immer schon dann umgefallen, wenn ich fand, es wäre genug, auf diese Weise die Kontrolle über die Situation bewahrend.

Eines Morgens wachte ich dann auf mit einem Satz im Kopf: "Ich vertraue niemandem." Und es war völlig klar, dass dieser Satz auf eine sehr fundamentale Art wahr ist.

Wenig später kam ein fürchterlicher Moment, in dem die beiden oben genannten Menschen sagten, sie wüssten nicht so richtig, was sie mit mir anfangen sollten, weil ich auf Interventionen oft mit Schock und Einfrieren reagieren würde. Im selben Moment spürte ich, wie diese Bemerkung mir vollkommen den Boden unter den Füßen wegzog, weil der Raum, den ich bis dahin als sicher betrachtet hatte, es plötzlich nicht mehr war. Ein Alarmprogramm lief an, ich ging sofort in den Rückzug, erwog beinahe, mich zu entschuldigen. Doch immerhin, es gab einen Unterschied zu früher, und insofern war die Bemerkung wirklich hilfreich: dieses Mal spürte ich tatsächlich die Veränderung, fühlte zu meinem großen Entsetzen in mir die Angst und das Misstrauen, die da waren, genau so, wie die beiden das fast ein Jahr zuvor gesagt hatten.

Noch einmal einige Monate später, in einem vergleichbaren Kontext: In einer Zeremonie rief ich um Hilfe, doch, den Umständen geschuldet, kam keine. Weitere Situationen in dieser Nacht führten dazu, dass ich am Ende ernsthaft mein Recht bezweifelte, dort überhaupt anwesend zu sein. Genaugenommen bezweifelte ich mein Recht zu leben. Und ich begriff, dass ich mein Vertrauen verloren hatte, auf eine so grundlegende Weise, dass mir in einer der folgenden Rederunden nichts übrig blieb, als eben das in all meiner Verzweiflung, Offenheit und Ehrlichkeit mitzuteilen.

Doch natürlich blieb es nicht dabei. Wieder geriet ich in einer Zeremonie in eine Situation, in der ich dringend Hilfe brauchte. Aus der puren Notwendigkeit heraus entschied ich mich schließlich dafür, zu vertrauen und um Hilfe zu rufen, die dieses Mal dann auch tatsächlich kam. In derselben Nacht landete ich später erneut in der Einsamkeit und dem Nichts, in das ich am Anfang meines Lebens durch den Tod meines Zwillings geraten war. Dieses Mal war es mir möglich, dieses Nichts bedingungslos zu akzeptieren, und ich verstand: Wenn ich mir des Nichts auf einer sehr fundamentalen Ebene bewusst bin, dann kann ich mich entscheiden, und zwar in jedem einzelnen Moment. Ich kann mich entscheiden, ob ich meiner lebenslangen Strategie folge und alleine stark bin - oder ob ich mich jemandem an-vertraue und die Dinge nicht alleine mache.

Und mit dem Vertrauen ist es ganz genauso. Ich kann - und ich muss, in jedem einzelnen Moment! - mich bewusst entscheiden: bleibe ich in dem Nicht-Vertrauen? Oder vertraue ich eben doch? Diese Entscheidung ist der zentrale Punkt, der, an dem dann tatsächlich auch Heilung möglich ist. Oder eigentlich ist es andersherum: an diesem Punkt zeigt die Heilung sich darin, dass ich in der Lage bin, diese Entscheidung zu treffen.

Dazu passt eine Passage, die ich vor einigen Jahren in einem Buch fand:
"Er hatte die Wahl. (...) Er hatte die Wahl, weiter gegen das Leben anzukämpfen oder es zu akzeptieren. (...) Es war verdammt hart, aber er hätte weiter dagegen ankämpfen und sich weiter unglücklich machen können. Stattdessen hat er beschlossen, sich bis an den Rand vorzuwagen und einen Blick in den Abgrund zu riskieren. Und er hat gesehen, was es zu sehen gibt, und entschieden, sich damit abzufinden. (...) Was manchmal wie eine Unterwerfung aussieht, ist in Wirklichkeit überhaupt keine. Es geht um das, was in unserem Herzen geschieht, darum, dass wir den Weg des Lebens klar erkennen, ihn akzeptieren und ihm treu bleiben, wie stark der Schmerz auch sein mag, denn der Schmerz ist viel, viel größer, wenn man sich selbst untreu wird."
(Nicholas Evans: Der Pferdeflüsterer, München 1995, S. 384f.)


Wenn ich mich entscheide, wirklich entscheide in vollem Bewusstsein dessen was ist, dann endet der Kampf automatisch - und ich bin an dem Platz, der der meinige ist. Darum geht es, und nur darum. Meine Geister haben einmal gesagt:
"Aller weltlicher Schmerz ist nichts gegen den geistigen, der entsteht, wenn jemand nicht an seinem Platz ist." So schmerzhaft der Weg auch sein mag und so schwierig die Entscheidung zu vertrauen: am Ende wartet eine unermessliche Belohnung. Freiheit. Leben. Wir selbst.

© Sabine Schleichert, Herbst 2018