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Einsamkeit

Als Kind war ich einsam. Einzelkind (natürlich - von meinem Zwillingsbruder wusste niemand etwas). Das Elternhaus von einem dominanten Vater und einer unsicheren Mutter geprägt. Intellekt war erlaubt, emotionaler Ausdruck hingegen nicht. Wenig Kontakt zur ohnehin nur spärlich vorhandenen Verwandtschaft. Durchgängig Klassen- und Jahrgangsbeste in der Schule. Eher Bücherwurm als Straßenkind. War ich auf Geburtstagen eingeladen, saß ich früher oder später mit einem Buch in der Ecke, während die anderen spielten.
Im Gymnasium gab es dann eine beste Freundin, in deren Familie ich die Lebendigkeit der Kommunikation untereinander bestaunt habe. Alle anderen habe ich eher mit Hausaufgaben oder Erklärungen beliefert, als dass sie wirkliche Freunde gewesen wären. Selbst in dem Mädchen- bzw. Juniorinnendoppelvierer mit Steuerfrau, in dem ich jahrelang in wechselnden Besetzungen gerudert bin, war ich immer so eine Art fünftes Rad am Wagen. Doch fand ich, ich hätte mich mit all dem ziemlich gut arrangiert. Es war halt so, und ich kam damit zurecht.

Und auch heute sitze ich lieber mit einem Buch auf dem Balkon, als mich unters Volk zu mischen. Ich arbeite vorwiegend allein, habe aber immerhin gelernt, lockere Netzwerke zu schätzen und zu nutzen.

Nicht Einsamkeit, wohl aber Getrenntsein ist so etwas wie eine anthropologische Konstante. Leben ist Getrenntsein. Die Geburt trennt uns von dem Wesen, mit dem wir bis dahin innigst verbunden waren. Sie zwingt unseren gesamten Organismus, von einem Moment auf den anderen alleine zu atmen, den Stoffwechsel in Gang zu halten, mit den unmittelbaren Anforderungen der Umwelt zurechtzukommen. Gleichzeitig aber sind Menschen, biologisch gesehen, unreife Frühgeburten. Während bei vielen Tierarten der Nachwuchs sofort laufen und vielleicht sogar ziemlich bald selbst für Futter sorgen kann, bedürfen die Menschenkinder viele Jahre lang der intensiven Betreuung. Und auch ein Erwachsener, in der steinzeitlichen Wildnis auf sich allein gestellt, hätte wenig Chancen. Wir Menschen sind für unser Überleben auf den Zusammenhalt der Gruppe angewiesen. Aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, bedeutete fast automatisch den Tod. Nicht von ungefähr wurden auf Island Verbrecher einfach ins unwirtliche Hochland verbannt; nur die allerwenigsten überlebten dort.

Einsamkeit ist tödlich, buchstäblich.

Vor einigen Jahren habe ich das am eigenen Leib erfahren. Da war ein Umfeld, in dem ich vertraut habe, in dem ich mich und mein Herz geöffnet habe - so weit es mir damals möglich war. Und dann hat die Gruppe sich gegen mich gewendet. Es tut hier nichts zur Sache, was genau oder warum das geschehen ist, und auch nicht, dass ich den Beteiligten bis heute tatsächlich zutiefst dankbar bin für die Erfahrungen, die dadurch möglich wurden und immer noch werden. Ich will darauf hinaus, dass ich aus der Gruppe ausgeschlossen wurde. Nicht offen, sondern sehr subtil. Den Protagonisten dürfte es nicht einmal bewusst gewesen sein. Mir aber haben die Vorgänge eine energetische Wunde geschlagen, die jetzt, fünf Jahre später, immer noch spürbar ist. Und ich habe Jahre gebraucht zu verstehen, dass dieses Ausgeschlossenwerden aus der Gruppe mir tatsächlich fast ans Leben gegangen wäre. Nicht nur, weil ich aus lauter Verzweiflung nicht allzu weit davon entfernt war, von der Brücke zu springen, sondern weil damit genau diese Ur-Angst und Ur-Verletzlichkeit des Menschen in einer potenziell feindlichen Wildnis reaktiviert wurde. Ich hatte ein Zuhause verloren, und das führte direkt in die Einsamkeit - und beinahe in den Tod.

Auch dem schamanischen Arbeiten wohnt ein genereller Zwiespalt inne. Einerseits geht es um Verbindung und Verbundenheit. Ich habe lange gebraucht, bis ich begriffen habe, d
ass es vor allem die Sehnsucht nach Verbundenheit - mit mir, mit der Erde, mit allem - ist, die mich ins schamanische Arbeiten zieht. Andererseits macht schamanisches Arbeiten einsam, weil es schwierig ist, die oft doch recht krassen Erlebnisse mit jemandem zu teilen und Verständnis für das eigene Erleben zu finden; und auch, weil Führung, die Führung einer Gruppe beispielsweise, automatisch Einsamkeit mit sich bringt. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang sogar auch andersherum: schamanisches Arbeiten setzt Einsamkeit voraus. Meine Geister haben all das einmal so ausgedrückt: "Du bist vollkommen allein." Was ich zunächst überhaupt nicht witzig fand, nachdem ich doch gerade erst begriffen hatte, dass es mir um Verbundenheit ging.

So weit, so gut. Erst einmal.

Aber war da vielleicht noch mehr? In Filmen und Geschichten berührten mich immer diejenigen Szenen tief, die im Kern von Einsamkeit erzählten. Das Ende des Titanic-Films. Die Hündin Lassie, die nach Hause findet. Oder auch ein Satz von jemandem irgendwo in den Sozialen Medien, bezogen auf "Memory" aus "Cats": "Die alte Katze, die schlaflos in der Nacht auf den neuen Morgen wartet und auf die Hand, die sie ein bisschen streichelt ..." Der Satz traf mich, völlig unvorbereitet, mitten ins Herz (so sehr, dass er in einer Datei mit dem Titel Einsamkeit auf meinem Rechner landete). Er tut es auch jetzt beim Schreiben wieder.

Und immer wieder stieß ich in Sessions in Tiefentrance auf Einsamkeit. Auf einen Ozean aus Einsamkeit, leer, ohne Ufer oder Halt, niemals und nirgendwo endend. Ebenso regelmäßig war es von dort nur ein sehr kleiner Schritt zu Aufgabe, Dissoziation und Tod, bis hin zu einem Punkt, an dem die Welt um mich herum anfing zu schrumpfen und immer stiller zu werden (und ich bin bis heute nicht sicher, ob ich in der Session nicht vielleicht wirklich - physisch - gestorben wäre, wenn ich an dieser Stelle noch einen Millimeter weitergegangen wäre). In der Erfahrung mit dem Verlust meines Zwillingsbruders ging mir das so und als ich herausgefunden habe, dass mich niemand im Leben willkommen geheißen hat. Der Begleiter dieser Sessions kommentierte eines meiner älteren Protokolle einmal mit der Bemerkung, das gesamte Protokoll hinterließe in ihm den Eindruck einer großen Einsamkeit, des Nichtgesehenwerdens und der vielen Bemühungen um das Gesehenwerden.

Zu allem Überfluss bin ich jetzt auch noch auf Missbrauch gestoßen. Jahrelang habe ich gesagt, nein, da war definitiv nichts. Doch fast jedes Mal in den Sessions fing mein Körper an zu reagieren in einer Form, die immer nach Abwehr und Fluchtversuchen aussah. Nie aber konnte das wirklich einer konkreten Geschichte zugeordnet werden, und über Jahre hinweg blieb es ein Rätsel, was der Grund für diese Reaktionen war. Vor einigen Wochen gab nun es erstmals konkretere Bilder, die eine Verortung in Raum und Zeit möglich machen. Und außer Entsetzen und Abscheu war ein bestimmtes Gefühl vorherrschend: das Gefühl, betrogen worden zu sein, was wiederum erneut in die Einsamkeit führte.

Missbrauch führte damals in die Einsamkeit, und heute tut er das ebenso. Denn damit verbunden ist ein tief verankertes, immens schwer zu überwindendes Verbot, der Erfahrung Ausdruck zu geben, damit gesehen zu werden. Darüber hinaus habe ich Angst, Menschen davon zu erzählen, weil ich befürchte, dass mir nicht geglaubt wird - dass ich zurückgewiesen, nicht ernstgenommen werde. Selbst jemand, der meinen früheren Berichten über die Sessions immer mit großer Anteilnahme gefolgt ist, hat dann gesagt: "Ich möchte dir gern glauben." Zwar stellte sich später heraus, dass der Satz anders gemeint war, aber für mich hieß das in diesem Moment: mir wird nicht geglaubt. Doch wäre es so dringend notwendig, das auszudrücken, was da ist. Es wäre so dringend notwendig, dass jemand da ist, der für mich den Raum hält, der mich hält, denn ich selbst schaffe das im Moment oft nicht. Auch das ist Einsamkeit.

Wie immer geht es schlussendlich darum, all dies bedingungslos und in seiner ganzen Tiefe zu akzeptieren ... und von dort aus die bewusste Entscheidung für das Leben zu treffen, in aller Hingabe (das englische Wort gefällt mir besser: surrender), Schönheit und Klarheit. In einem meiner Session-Protokolle heißt es: "Letztlich habe ich in dieser Nacht eine Entscheidung für das Leben getroffen. Eine Entscheidung für das Leben, die sich völlig bewusst ist, dass diese Einsamkeit alles durch­dringt und im Grunde nicht 'heilbar' ist, und die das zutiefst akzeptiert. Ich meine damit nicht eine Einsamkeit, die sich in irgendeiner Form im täglichen Leben zeigen wür­de, sondern eine sehr viel grundlegendere, die da ist, so wie meinetwegen das Universum halt da ist. Ohne das Universum wä­re das Leben nicht denkbar, es existiert kein Leben 'außerhalb' des Universums. Ungefähr so ist das mit dieser Einsamkeit."

Dieser Tage habe ich noch etwas verstanden. Einsamkeit scheint nicht nur ein Lebensthema zu sein, sondern auch eine Aufgabe. Es ist, als hätte meine Seele sich diese Inkarnation ausgesucht, um diesen Zustand in all seinen Aspekten zu erfahren, mit allen Situationen, die dorthin führen können. Diese Erkenntnis war einerseits eine Erleichterung, weil so ein gewisser Sinn in all dem erkennbar wird. Andererseits führte sie unmittelbar in einen kompletten Zusammenbruch der Kraft, weil darin gleichzeitig eine tiefe Hoffnungslosigkeit liegt, eine Unausweichlichkeit: es gibt nichts außerhalb dieser Einsamkeit.

Es gibt nur die Möglichkeit, damit zurechtzukommen. Mich bewusst für eben dieses Leben zu entscheiden.
Ja zum Leben zu sagen. Das zu erfahren, was zu erfahren ansteht, und das zu heilen, was geheilt werden kann und soll.

Noch einmal "Cats": "If you touch me, you'll understand what happiness is."


© Sabine Schleichert, Winter 2019/20