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Verbundenheit

In einer jener beim Friseur und an ähnlichen Orten unvermeidlichen Frauenzeitschriften las ich letzte Woche, von den Menschen werde heutzutage einerseits ein ausgesprochen vernünftiges Leben erwartet - gesundes Essen, Sport, Ausgeglichenheit -, andererseits zeige sich aber eine Tendenz zum "kontrollierten Exzess", zu Ausflügen in den Kontrollverlust und in die Maßlosigkeit dann, wenn es erlaubt scheine, etwa beim Fasching. Grund sei die Sehnsucht nach Leidenschaft, Hingabe und dem "wirklichen Leben", nach intensiven Gefühlserfahrungen, die für ein erfülltes Leben notwendig seien.

Diese Woche habe ich miterlebt, wie beim Fünf-Rhythmen-Tanzen ein Raum gesteckt voll mit rund hundert Menschen mit wenigen Ausnahmen buchstäblich in Ekstase geriet. Uns selber zu spüren, das war eine der Aufforderungen, die im Laufe des Abends an die Tanzenden ergangen waren. Und zumindest zwei der Anwesenden brachen im weiteren Verlauf in Tränen aus, ohne dass es irgendeine Rolle zu spielen schien, dass dies unter Wildfremden geschah. Eine ganz erstaunliche Nähe entstand, fast ohne Worte, ohne jede Erwartung oder Forderung, ohne Hintergedanken - zumindest war das mein Eindruck. Mich erinnerte das an die Atmosphäre bei schamanischen Seminaren und ähnlichen Veranstaltungen, die mich schon seit Jahren fasziniert. Oft wissen wir so gut wie nichts über unsere Gegenüber, über das Umfeld, in dem sie leben - und doch lernen wir sie in gewisser Weise besser kennen und kommen ihnen näher als vielen Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung. Und diese Nähe fühlt sich gut an, sie macht uns klar, dass wir, ob wir wollen oder nicht, in unserem Alltagsleben meist mit einer Maske herumlaufen, dass uns dort oft ein Stück Ehrlichkeit fehlt - welches wir aber gleichzeitig schmerzlich vermissen.

Uns selbst also wollen wir spüren, mit uns selbst verbunden sein. Doch paradoxerweise geht das für viele Menschen offenbar nur in Ekstase, in einem Zustand, in dem wir uns definitionsgemäß außerhalb von uns befinden, außerhalb des kontrollierten Rahmens, mindestens aber außerhalb des Alltags.

Eine Lehrerin hat einmal gesagt, wir seien auf der Erde, um Gefühle zu erleben - doch um es etwas komplizierter zu machen, habe der liebe Gott uns dazu noch den Verstand geschenkt. Unverstellt uns selbst und unsere Emotionen zu spüren, das ist es, wonach wir streben - und gleichzeitig stehen wir uns selbst im Weg, brauchen den Umweg über Grenzerfahrungen, um da hinzukommen, wo wir eigentlich schon immer hinwollten.

Eine Freundin hat auf die Frage, warum sie schamanisch arbeiten will, einmal gesagt, weil sie sich dann lebendig fühle. Ich fand diese Aussage zunächst ziemlich befremdlich - fühlt man sich sonst nicht lebendig? Ist es legitim, schamanisches Arbeiten für andere als ein Vehikel für das eigene Wohlbefinden zu nutzen? Meine eigene Suche nach dem Motiv, warum ich selbst schamanisch arbeiten will, führte mich schließlich zu der Erkenntnis, dass es die Sehnsucht nach dem Verbundensein ist. Natürlich wissen wir, dass alles mit allem verbunden ist, schließlich ist das die Grundvoraussetzung schamanischen Arbeitens. Wir können es aber nicht immer spüren. Und so kam ich schließlich darauf, dass es auch mir im Kern darum geht, mich lebendig zu fühlen, genau wie die Freundin das gesagt hat. Das Verbundensein mit allem, was ist, allem, was lebt, ist der tiefste Ausdruck von Lebendigkeit.

Und es ist dieses Verbundensein, das Abwerfen unserer alltäglichen Masken, in dem wir nicht nur allem, was ist, am nächsten kommen, sondern auch uns selbst - wodurch schamanisches Arbeiten überhaupt erst möglich wird. Schamanisches Arbeiten geht nur, wenn wir jegliche Maske fallen lassen, nur dann, wenn wir voll und ganz und in vollem Bewusstsein wir selber sind.

Und gleichzeitig
- eine der vielen Paradoxien im Schamanischen - genau das nicht sind. Denn das Außer-Sich-Sein, die Ekstase, der Verlust der Kontrolle gehören ebenfalls dazu; darauf hat schon Mircea Eliade hingewiesen. "Wenn du nicht bei dir bist, machst du richtig gute Arbeit", hat einer meiner Lehrer mal gesagt. Wenn ein Geist durch mich wirkt, dann bin es nur noch teilweise ich, die da etwas tut, doch auf der anderen Seite ist ein tieferer Zustand von Verbundenheit mit den Geistern, mit den Menschen, mit allem, kaum vorstellbar. Ohnehin funktioniert schamanisches Arbeiten - zumindest für mich, die ich normalerweise ziemlich kopfgesteuert bin - dann am besten, wenn ich meinen Verstand solange irgendwo parke und ihm nach Möglichkeit nicht einmal die Rolle des kommentierenden Beobachters zubillige. Mitten in einer solchen Situation, es mag eine Extraktion gewesen sein, wurde ich einmal angesprochen. Zwar bekam ich zunächst nicht wirklich mit, was der Sprecher von mir wollte, aber ich fiel prompt aus diesem "anderen" Zustand heraus, spürte erstaunt, wie sich die Fokussierung meiner Augen völlig veränderte und der Verstand wieder einrastete, zumindest für einige Momente. Erst dadurch wurde mir überhaupt bewusst, wie anders dieser "andere" Zustand ist. Es ist auch nicht der Trancezustand, wie wir ihn aus schamanischen Reisen kennen, es ist ein Drittes irgendwo dazwischen und gleichzeitig mit viel weniger Ichbewusstsein als das Reise- und das Alltags-Sein.

Eine kurze Seitenbemerkung: Weil dieser Zustand so "anders" ist, ist es kein Wunder, dass nicht nur ich immer wieder feststelle, mich hinterher fast nicht an die Details des Arbeitens erinnern zu können. Damit wäre gleichzeitig bewiesen, dass die auch in der ethnologischen Literatur beschriebene "schamanische Amnesie" eben doch keine Schutzbehauptung von Schamanen in traditionellen Gesellschaften ist, um den Abstand von Ehrfurcht und Fremdheit zwischen dem Schamanen und dem Klienten aufrechtzuerhalten, sondern reale Folge des Arbeitens. Manchmal werde ich nach dem Arbeiten angesprochen und gefragt, wie genau dieser oder jener Satz gelautet habe oder was genau da und da passiert sei - und ich weiß teilweise nicht einmal mehr genau, für wen ich eigentlich gearbeitet habe in der Nacht, ganz zu schweigen davon, dass ich auf Anhieb wüsste, was ich gesagt oder getan hätte. Manches fällt mir dann schon wieder ein, aber die Erinnerung bleibt bruchstückhaft.

Zurück zu meiner Frage, warum ich schamanisch arbeiten will: Bin ich einfach nur auf der Suche nach dem "Kick" und dem Kontrollverlust wie diejenigen, die im Fasching über die Stränge schlagen, oder die, die sich mit einem Bungee-Seil von einer Brücke stürzen? Bin ich doch ein Fall von "Hausfrauen-Schamanismus", gehöre also zu jenen, die sich in der Mitte ihres Lebens fragen, ob das mit Beruf, Kind, Haushalt jetzt alles war, und ihre nicht ausgelasteten Kapazitäten auf schamanischen Wochenendseminaren ausleben? Wobei ich zugeben muss, dass diese Frage mich schon umgetrieben hat in den letzten Jahren, und der Umstand, dass das Kind in der Tat fast schon aus dem Haus ist, erleichtert die Dinge ungemein.

Nein. Ich glaube im Gegenteil, dass der Kern der oben beschriebenen Suche nach Leidenschaft, Hingabe, tiefen Emotionen und dem "wirklichen Leben" letztlich ganz dieselbe Sehnsucht ist, die auch mich treibt: das Streben danach, das Verbundensein im tiefsten Inneren zu spüren. Ob wir nun diese Verbundenheit im Außen suchen oder im Inneren, das bleibt uns letztlich selbst überlassen. Ich jedenfalls bin zutiefst dankbar, dass ich im Schamanischen den Weg gefunden habe, das Verbundensein, die Verbindung von mir zu allem, was ist und lebt, so unmittelbar zu erfahren - und das auch noch in der Arbeit für andere tun zu dürfen.

Mitakuye oyacin!

... So froh und dankbar war ich, endlich verstanden zu haben. Doch dann kam wieder einer dieser Sätze aus der Geisterwelt, prägnant, tiefgründig, unerwartet, die Dinge komplett in ein anderes Licht rückend: "Du bist vollkommen allein." Allein? Wo ich doch gerade zu dem Schluss gekommen war, dass es meine Sehnsucht nach Verbundenheit ist, die mich treibt?

Der Tod, so haben meine Geister mehrfach gesagt, ist der Ursprung allen Lebens und "unser aller Heimat", letztlich die grundlegendste Form von Verbundenheit. Die Geburt hingegen ist es, die unmittelbar zum Alleinesein führt. Leben ist Getrenntsein, schon dadurch, dass wir in separaten Körpern und mit separatem Ichbewusstsein unterwegs sind. Wir haben uns dafür entschieden zu leben, als Menschen zu leben, um jene Erfahrungen zu machen, die nur so möglich sind - und dazu gehört die Verbundenheit, die wir mit eben dieser Entscheidung verlassen haben und nach der wir uns dennoch so sehr sehnen. Sie können wir nur dann bewusst leben, wenn sie nicht automatisch da ist, wenn wir uns jedes Mal ausdrücklich in dieses Kontinuum des Alles-ist-mit-allem-verbunden zurückbegeben müssen.

© Sabine Schleichert, Sommer 2015